Else Jerusalem hat mit ‚Der heilige Skarabäus‘ formal und inhaltlich überwältigende Literatur geschaffen. In die eigentliche, chronologisch entwickelte Handlung sind nicht nur Rückblenden, sondern auch beispielhafte Biografien von verschiedenen Prostituierten eingeflochten. Else Jerusalem inszeniert nicht durchgängig, löst jedoch viel in Dialogen auf, und erzählt auf eine ungemein lebendige und eindringliche Art. […] Der 1909 veröffentlichte Roman ‚Der heilige Skarabäus‘ dreht sich um Prostitution, ja, aber Else Jerusalem bleibt dabei diskret und ihre Darstellung ist frei von jeglicher Anrüchigkeit. Hätte Emile Zola das Buch geschrieben, wäre es gewiss wohlwollend aufgenommen worden. Aber – und das war bezeichnend für die von Else Jerusalem kritisierte patriarchalische Gesellschaft – eine weibliche Autorin, die sich mit solchen Themen beschäftigte, löste damals einen Skandal aus. Vielleicht machte gerade das – und weniger das hohe literarische Niveau – ‚Der heilige Skarabäus‘ zum Bestseller: Bis 1926 wurden 40 Auflagen gedruckt, davon 20 bereits im Erscheinungsjahr.
Die Nationalsozialisten setzten das Gesamtwerk der inzwischen in Argentinien lebenden Wiener Schriftstellerin Else Jerusalem 1938 auf die Liste des ’schädlichen und unerwünschten Schrifttums‘. Der Amsel-Verlag in Zürich druckte zwar 1954 noch eine Ausgabe von ‚Der heilige Skarabäus‘, aber der großartige Roman geriet in Vergessenheit. Dass sich das ändert, ist zu hoffen, denn im Oktober 2016 druckte der zwei Jahre zuvor in Wien von dem 1990 in München geborenen Verleger Albert C. Eibl gegründete DVB Verlag (Das vergessene Buch) eine von der Grazer Literaturprofessorin und Psychotherapeutin Brigitte Spreitzer herausgegebene Neuausgabe. […]
Dieter Wunderlich am 14. Oktober 2016
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Mit der Wiederentdeckung des Romans, im argentinischen Original 1971 erschienen, gelingt dem Wagenbach-Verlag ein Coup. Ganz so einfach war die Sache naturlich nicht, denn man kann sich als Frau nicht so ohne weiteres in der Welt des Rotlichts bewegen.