EUROPA 1937
John F. Kennedy reiste als junger Mann dreimal nach Nazi-Deutschland: 1937 als Student, in einer Zeit der trügerischen Ruhe; 1939 als Botschaftersohn, kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs; und 1945 als Reporter, während der Potsdamer Konferenz. Seine Aufzeichnungen hat Kennedy selbst nie veröffentlicht. Sie zeigen, wie ein ausländischer Beobachter die deutsche Diktatur wahrnehmen konnte – unmittelbar, vor Ort, ohne nachträgliche Bearbeitung. Im Rückblick erkennen wir blinde Flecken und Fehleinschätzungen, aber auch Einsichten von großer Aktualität, etwa zu Populismus und Propaganda. Auf seinen deutschen Reisen beschäftigten Kennedy die entscheidenden Fragen seiner späteren Präsidentschaft: Wie funktioniert eine Diktatur? Wie ist einem alternativen Gesellschaftsentwurf zu begegnen? Und wie lässt sich ein drohender Krieg abwenden? Kennedys Europa- und Russland-Politik und auch seine berühmte Berliner Rede von 1963 (“Ich bin ein Berliner”) sind vor diesem Hintergrund zu verstehen.
Neben zahlreichen neuen Archivfotos enthält dieser Band Kennedys vollständiges Tagebuch seiner Europareise von 1937 sowie als Pendant dazu das bislang noch nie veröffentlichte Reisetagebuch von Lem Billings, der als enger Freund und Reisebegleiter des späteren US-Präsidenten die Grand Tour der beiden Studenten aus seiner Sicht dokumentierte.
Kirk LeMoyne Billings (1916–1981), genannt „Lem“, war ein Schulfreund von John F. Kennedy und blieb zeitlebens dessen enger Vertrauter. Gemeinsam unternahmen die beiden als Studenten im Sommer 1937 eine ausgedehnte Europa-Reise von Frankreich über Italien, Österreich, Deutschland, die Niederlande und Belgien bis nach England. Sie führten dabei Tagebücher, die hier erstmals zusammen veröffentlicht werden. Nach seinem Studium an der Princeton University und der Harvard Business School arbeitete Lem Billings als Geschäftsmann und in der Werbung. Er unterstützte Kennedy bei dessen Wahlkämpfen sowie in verschiedenen Funktionen während der Präsidentschaft.
Der Herausgeber Oliver Lubrich ist Professor für Komparatistik an der Universität Bern. Er schrieb über Shakespeares Selbstdekonstruktion und Postkoloniale Poetiken. Mit Primatologinnen und Ethnologen untersuchte er Die Affekte der Forscher, mit Neurowissenschaftlern unternahm er Labor-Studien zur experimentellen Rhetorik. Er gab zahlreiche Werke von Alexander von Humboldt heraus, unter anderem Zentral-Asien und die Sämtlichen Schriften. In Reisen ins Reich, 1933–1945 und Berichte aus der Abwurfzone, 1939–1945 dokumentierte er die Zeugnisse internationaler Autoren aus Nazi-Deutschland, zum Beispiel von Virginia Woolf, Albert Camus, Jean Genet und Samuel Beckett. Zu seinen neuesten Veröffentlichungen zählen Thomas Wolfe – Eine Deutschlandreise und Humboldt oder Wie das Reisen das Denken verändert.
„Zwei amerikanische Studenten auf Europa-Reise: Der 20-Jährige John F. Kennedy und sein Begleiter Lem Billings besuchen 1937 neben Frankreich und Spanien auch das faschistische Italien und Nazi-Deutschland. Ihre Eindrücke halten die beiden – 24 Jahre, bevor Kennedy zum 35. Präsident der USA gewählt wird – in einem Tagebuch und Journal fest.“
– Schweizer Rundfunk (SRF)